HRV-Messung
Die Abkürzung HRV steht für Heart Rate Variability, zu deutsch: Herzfrequenzvariabilität, daher liest man oft auch von HFV.
Seit Jahrzehnten wird sie in der Kardiologie aus dem EKG berechnet und gilt als Risikoindikator für den ungünstigen Verlauf einer Herzerkrankung. Sie ist also kein Risikofaktor, der für sich genommen krank macht, sondern zeigt an (lat: indicare = anzeigen), dass der Betreffende ein erhöhtes Risiko aufweist, in Zukunft zu erkranken.
Ist die HRV hoch, so ist dies günstig, ist die HRV niedrig oder gar starr, so hat der Betreffende ein höheres Sterberisiko.
Liegt sie im mittleren Bereich und verändert sich von Woche zu Woche in Richtung niedrig, so ist dies ein Zeichen für anhaltenden Stress, der zum Burnout führen kann.
Liegt sie im niedrigen Bereich und verändert sich in Richtung größerer Variabilität, so zeigt dies den Wechsel eines ungesunden, gestressten Lebensstils hin zu einem gesunden, ausgeglichenen Lebensstil.
Die HRV ist somit ein Spiegelbild des vegetativen Nervensystems.
Man kann dieses Phänomen übrigens auch an sich selbst beobachten, indem man den Puls am Handgelenk tastet und dann langsam tief ein- und ausatmet: beim Einatmen wird der Puls schneller, beim Ausatmen langsamer. Dies ist normal und wird als respiratorische Arrhythmie bezeichnet, die bei jungen Menschen ausgeprägter ist als bei Älteren.
Schlägt das Herz jedoch wie ein Metronom, so hat es seine Reaktionsfähigkeit eingebüßt und kann den Kreislauf nicht mehr an die körperlichen und psychischen Anforderungen anpassen.
Mithin hat die HRV in der medizinischen Betreuung und Beratung eines gestressten Noch-Gesunden oder eines bereits Stress-Erkrankten einen hohen Stellenwert, auch wenn die HRV in der ärztlichen Praxis meist nur mittels eines aufwändigen Langzeit-EKGs bestimmt wird und daher eher selten zur Anwendung kommt.
Mit dem Aufkommen der Fitnessarmbänder und Smartwatches (siehe Wearables), welche die HRV aus der kontinuierlich aufgezeichneten Pulskurve berechnen, hat dieser Wert Einzug in das tägliche Leben gehalten und inzwischen den Status eines Lifestyle-Parameters erobert, was seinen Bekanntheitsgrad erheblich gesteigert hat.
Der Vorteil der kontinuierlichen Erhebung mittels Wearables besteht darin, dass Entwicklungen von Tag zu Tag beobachtet werden können, wofür man in der ärztlichen Praxis täglich ein Langzeit-EKG ableiten müsste.
Der Nachteil besteht darin, dass die HRV-Messung insgesamt sehr störanfällig ist und bereits wenige (harmlose) Extraschläge das Ergebnis diametral verfälschen können, und vielfach weder die Sporttreibenden, noch die zu Rate gezogenen Ärzte die Fallstricke in der Interpretation der Ergebnisse kennen. Daher sollten die mit Fitnessarmbändern oder Smartwatches erzielten Ergebnisse erst nach Ableitung eines EKGs zum Ausschluss von Herzrhythmusstörungen und immer nur in Kooperation mit einem Arzt interpretiert werden, der darin erfahren ist.
Wie wird die HRV gemessen?
Die HRV wird aus den zeitlichen Abständen der Herzschläge (im EKG den sogenannten RR-Abständen, in der Pulskurve den Abständen der Wellengipfel) berechnet und in Millisekunden angegeben. Folgt beispielsweise ein Herzschlag exakt auf den nächsten, wie bei einem implantierten Herzschrittmacher (bei dem man die HRV nicht beurteilen darf, da sie durch den Schrittmacher künstlich perfekt starr ist und nicht mehr der Steuerung durch das vegetative Nervensystem unterliegt) und ist der Schrittmacher auf eine Herzfrequenz von 60 programmiert, so betragen alle 59 Abstände innerhalb einer Minute exakt 1 Sekunde (60 Sekunden geteilt durch 60 Schläge) oder 1000 Millisekunden.
Ist kein Schrittmacher implantiert, so wird die Herzschlagfolge vom vegetativen Nervensystem moduliert. Bei einem Puls von 60 Schlägen / Minute können die einzelne Abstände beispielsweise zwischen 970 und 1030 Millisekunden variieren, was eine gute HRV ergibt, oder nur von 995 bis 1005 ms, was eine niedrige HRV ergäbe.
Wie wird die HRV berechnet und in welcher Einheit wird sie angegeben?
Für die Berechnung der HRV und damit die Übersetzung der Variabilität der Herzschlagfolge in eine zusammenfassende Zahl gibt es mehrere Formeln, zum Beispiel die der RMSSD-Formel, also der Quadratwurzel aus dem Mittelwert der Varianz zwischen den aufeinanderfolgenden Herzschlägen. Die Einheit sind stets Millisekunden. Eine andere Formel ist die sogenannte SDANN oder der Triangular Index.
Was ist normal und welche Formel ist am aussagekräftigsten?
Einen Normalwert gibt es aus mehreren Gründen nicht: Erstens nimmt die HRV natürlicherweise mit dem älter werden ab. Zweitens ist sie auch bei gleichaltrigen Gesunden verschieden. Und drittens gilt: je höher, desto besser.
In welcher Formel die HRV angegeben wird, hängt auch davon ab, ob sie aus einem 24-Stunden-EKG, einem 5-Minuten-EKG oder einer Pulswelle abgeleitet wird. Da die Werte jedoch nur innerhalb einer Person im zeitlichen Verlauf verglichen werden sollten, ist es auch unerheblich, welche Formel dem zugrunde gelegt wird.
Entscheidend ist, dass keine Extraschläge oder sonstigen Artefakte in die Messung einbezogen bzw. vorher manuell eliminiert werden.
Welche Messung ist für die Praxis die beste?
Erste Voraussetzung für eine verwertbare HRV-Messung ist, dass keine Extraschläge in die Auswertung einfließen. Wird die HRV aus einem EKG abgeleitet, so können derartige Extraschläge visuell erkannt und für die Auswertung eliminiert werden.
Für eine Vergleichbarkeit sind zweitens vergleichbare Umstände der Datenerhebung Voraussetzung. Daher kann der Vergleich aus zwei 24-Stunden-EKGs irreführend sein, wenn der Proband beim ersten Langzeit-EKG viel Sport betrieb und wenig schlief und beim zweiten Langzeit-EKG tagsüber überwiegend am Schreibtisch saß und lange schlief. Auch aus diesem Grund hat sich in der ärztlichen Praxis die 5-Minuten Kurzzeitmessung in Ruhe, sowie die 1-Minuten-Messung während sechsmaligem tiefen Ein- und Ausatmen bewährt.
Da Wearables keine Möglichkeit bieten, Extraschläge zu sehen und für die Auswertung zu elimineren, dürften diese Geräte die HRV "eigentlich" nur dann anzeigen, wenn sichergestellt ist, dass an diese Tag keinerlei Herzrhythmusstörungen vorliegen. Ein zweiter Kritikpunkt an den am Handgelenk getragenen Wearables ist die Tatsache, dass sie meist tagsüber messen, wo von Tag zu Tag naturgemäß unterschiedliche Bedingungen herrschen. Ein Ausnahme macht der Oura Ring, der nachts mißt und bei regelmäßigem Herzrhythmus verläßliche HRV-Werte liefert.
Welchen Stellenwert hat die HRV-Messung in meiner Praxis für Kardiologie, Sportmedizin und Integrative Medizin?
...einen sehr sehr großen! Denn innerhalb von wenigen Minuten können der vegetative Stresslevel und das Mortalitätsrisiko objektiv gemessen und daraus nicht nur individuelle Lebensstilempfehlungen abgeleitet werden, sondern dadurch, dass ich dem Ratsuchenden im Verlauf das Ergebnis der Therapie und seiner Lebensstilbemühungen anhand wiederholter HRV-Messungen demonstriere, verstärkt dies seine Motivation, "am Ball zu bleiben" (Biofeedback).
Hinzu kommt die damit verbundene Erfahrung des Kardiologen, auch Sporttreibende mit ihren Wearables beraten zu können.